In Texten aus dem Altertum oder aus früheren Jahrhunderten finden sich oft Beschreibungen von Beschwerden und Krankheitszeichen, die heute rückblickend bestimmten Krankheiten zugeordnet werden können.
Für das Zentralnervensystem trifft dies beispielsweise für Epilepsien oder Schlaganfälle zu. Daher weiß man, dass diese Erkrankungen auch schon in früheren Zeiten aufgetreten sind, auch wenn sie damals nicht immer als solche erkannt und benannt wurden. Weil für die MS kaum derartige Beschreibungen vorliegen, wurde lange Zeit vermutet, dass sie bis vor etwa 150 Jahren entweder nicht in der heutigen Erscheinungsweise oder zumindest nicht in derselben Häufigkeit aufgetreten ist.
Eine andere und mindestens ebenso wahrscheinliche Erklärungsmöglichkeit besteht darin, dass die MS deswegen erst so spät als eigenständige Erkrankung entdeckt wurde, weil sie so vielgestaltig ist.
Die älteste Beschreibung einer zumindest möglichen MS findet sich in der Island-Saga von St. Torlakr. Darin wurde von einer vorübergehenden Blindheit und Sprachstörungen der Wikingerfrau »Hala« in den Jahren 1293 bis 1323 berichtet, die sich unter »Gebeten und Opfern« innerhalb weniger Tage wieder zurückgebildet hätten.
Die nächste viel zitierte Beschreibung einer möglichen MS im Mittelalter war die Erkrankung der seeligen Lydwina von Schiedam (1380-1433). Diese hatte sich als 15-jähriges Mädchen nach einem Sturz beim Schlittschuhlaufen einen schlecht heilenden Rippenbruch zugezogen, in dessen Folge es zu mit Fieber verbundenen Komplikationen kam. Dann setzte eine chronische, sich über 38 Jahre hinziehende Leidensgeschichte mit schubartigen Verschlimmerungen und zwischenzeitlichen Besserungen ein. Unter anderem kam es zur Erblindung des linken und zu verstärkter Lichtempfindlichkeit des rechten Auges, einer Lähmung des rechten Armes, Schmerzen im Bereich einer Gesichtshälfte sowie Krämpfen und Druckgeschwüren in Armen und Beinen. Nachdem die Frau schon zu Lebzeiten auf grund ihrer religiösen Grundhaltung von vielen anderen Kranken besucht worden war, entstand nach ihrem Tod ein regelrechter Kult um ihre Person.
Auch das Tagebuch von Augustus Frederick d’Este (1794-1848), einem Cousin der Königin Victoria von England, liest sich streckenweise wie das Protokoll einer MS. Mit 28 Jahren traten erstmals Sehstörungen auf, die sich jedoch völlig zurückbildeten. Fünf Jahre später kam es zu einer Lähmung beider Beine mit wochenlang anhaltender Schwäche und Stürzen. In den folgenden Jahren traten Schmerzen beim Wasserlassen, unwillkürlicher Stuhlabgang und Potenzstörungen auf und mit Anfang 40 verschlimmerten sich Gefühlsstörungen im Unterleib und in den Beinen.
Schließlich kam es zu zunehmendem. Schwindel und Unsicherheit auf den Beinen, was zu einer Rollstuhlabhängigkeit führte.
Schließlich wird auch bei dem bekannten deutschen Dichter Heinrich Heine (1797-1856) diskutiert, dass es sich bei seinem chronischen Nervenleiden um eine MS gehandelt haben könnte. Im Alter von 35 Jahren trat eine Lähmung der linken Hand auf und zwei Jahre später kam es zu Sehstörungen. Neun Jahre nach Beginn der Erkrankung traten Schluck- und Sprachstörungen auf und schließlich kam es zu einer völligen Lähmung beider Beine.
Wesentliche Fortschritte in der Erkennung der MS waren erst nach einer genaueren Erforschung und Beschreibung des menschlichen Nervensystems vor weniger als 200 Jahren möglich. So wurden die Nerven überhaupt erst 1824 entdeckt und 1835 fand man erstmals ihre für die MS wichtige Umhüllung mit Myelin. Eine erste Darstellung der für eine MS typischen Veränderungen am Nervensystem von Verstorbenen erfolgte wenige Jahre später. 1849 wurde von dem deutschen Arzt Friedrich Theodor von Friedrichs erstmals zu Lebzeiten eines Betroffenen die Diagnose einer MS gestellt und 1868 wurden durch den französischen Neurologen Jean-Martin Charcot (1825-1893) an der berühmten Salpêtrière-Klinik in Paris zum ersten Mal die typischen Krankheitszeichen und der Verlauf beschrieben. Die von Charcot gewählte Krankheitsbezeichnung »sclérose en plaques« ist in Frankreich noch heute üblich.