Die genaue Ursache der MS ist trotz umfangreicher weltweiter Forschungsbemühungen nach wie vor unbekannt. Es gibt zwar eine Fülle von Einzelbefunden, ohne dass diese aber bisher ein einheitliches Bild ergeben und die Zusammenhänge vollständig geklärt werden konnten. Vieles spricht für eine Kombination aus Umwelteinflüssen und begünstigenden Erbanlagen mit Fehlreaktionen des körpereigenen Abwehr- oder Immunsystems zumindest zu Beginn der Erkrankung mit schubförmigem Verlauf. Später, in der so genannten chronisch-progredienten Verlaufsphase, spielen wahrscheinlich degenerative Vorgänge die Hauptrolle. Auf die Bedeutung von Erbanlagen weist das häufige Auftreten der MS bei Menschen mit bestimmten, von Geburt an vorhandenen Merkmalen der weißen Blutkörperchen hin (HLA-Typisierung). Für Umwelteinflüsse zumindest als eine mögliche Ursache sprechen schon die starken geographischen Unterschiede des weltweiten Auftretens.
Viele Vorstellungen, die wir heute von der Entstehung einer MS haben, beruhen auf Tiermodellen, also dem Versuch, die Krankheit des Menschen nachzuahmen (eine MS ist bei Tieren nicht bekannt). Es gibt vor allem zwei unterschiedliche Tiermodelle der MS, die durch ein so genanntes Autoimmunmodell und durch ein Virusmodell repräsentiert werden. Bei den Autoimmunmodellen wird die Entzündung des Nervensystems durch eine »Impfung« des Nervensystems der Tiere mit einerm bei ihnen normalerweise nicht vorkommenden Protein (Eiweiß) oder mit Nervengewebe selbst nachgeahmt (= experimentell-allergische Enzephalomyelitis oder kurz EAE). Bei den Virusmodellen entstehen Entzündung und Myelinscheidenverlust durch bestimmte Viren, die sich bevorzugt im Zentralnervensystem. aufhalten (z. B. Theilers Virus, Hundestaupevirus u.a.). Jedes der beiden Tiermodelle kann einen Teil der MS beim Menschen erklären; die Autoimmunmodelle mehr den entzündlichen Teil und die Virusmodelle mehr den degenerativen Teil. Einer neuen, jedoch noch nicht allgemein akzeptierten Hypothese zufolge könnten auch von Viren im Gehirn gebildete immunstimulierende Stoffe, so genannte Superantigene, die Entzündung hervorrufen. Die Viren selbst würden dann den degenerativen Teil der Erkrankung vermitteln.
Möglicherweise gibt es keine einzelne, für sich allein ausreichende Ursache der MS, sondern es müssen mehrere Faktoren zusammenkommen, damit sich eine MS entwickelt. So können sowohl eine erbliche Krankheitsbereitschaft (in der Fachsprache = Disposition; siehe dazu auch nächster Abschnitt) als auch umweltbedingte Auslöse- oder »Trigger«-Faktoren das Auftreten von Autoimmunreaktionen gegen Bestandteile des Zentralnervensystems begünstigen. Genaue und für einzelne Menschen zur verlässlichen Bestimmung des Erkrankungsrisikos geeignete Details sind aber bislang kaum bekannt.
Untersuchungen an Auswanderern aus Gebieten mit hohem MS-Risiko in solche mit niedrigem Risiko haben gezeigt, dass das Erkrankungsrisiko dann »mitgenommen« wird, wenn die Auswanderung in der späten jugend oder im frühen Erwachsenenalter erfolgt. Dies gilt auch umgekehrt bei einer Auswanderung aus einem Gebiet mit niedrigem in eines mit hohem Risiko. Deshalb wird angenommen, dass ein in der frühen Jugend erfolgender, aber zunächst ohne Krankheitserscheinungen verlaufender Kontakt mit einem Virus oder einer Gruppe von Viren eine Rolle spielen könnte. Für eine solche Theorie spricht auch, dass auf den mit Dänemark verbundenen Färöer-Inseln im Nordatlantik erstmals acht bis zwölf Jahre nach der Besetzung durch die englische Armee im zweiten Weltkrieg MS-Erkrankungen beobachtet wurden. Da keiner der neu Erkrankten vorher jemals die Insel verlassen hatte, liegt als mittelbare Ursache die Besetzung der Insel durch die englischen Soldaten nahe, die irgendetwas mitgebracht haben müssen, das dann auch bei den Einheimischen zum Auftreten von MS-Erkrankungen führte (England = Land mit hohem MS-Risiko). Im weiteren Verlauf kam es auf den Färöer-Inseln in jahrelangen Abständen immer wieder zu einer Zunahme der Krankheitsfalle (Epidemien). Deswegen wird vermutet, dass in der Kindheit und Jugend eine »lnfektion« stattfindet, die erst nach jahrelangem »stummen« Verlauf zu den klinischen Symptomen einer MS führt.
Eine andere Auffassung geht davon aus, dass es sich bei der MS um eine so genannte Autoimmunkrankheit handelt. Bisher ist aber unklar, was bei den Betroffenen dazu führt, dass irgendwann Bestandteile ihres eigenen Nervensystems attackiert werden. Wie bereits erwähnt, spricht vieles dafür, dass eine Verknüpfung beider Auffassungen zutrifft, wonach bei möglicherweise erblich beeinflusster Empfänglichkeit eine in der Kindheit oder Jugend erfolgte Infektion mit einem Virus oder anderen Erregern später eine Veränderung des körpereigenen Abwehrsystems bewirkt, die dann eine MS hervorruft. Welche Rolle Viren bei der Erkrankung spielen, ist bislang unklar beziehungsweise umstritten. Ganz sicher spielt dabei aber keines der bislang bekannten Viren eine im eigentlichen Sinn ursächliche, das heißt unmittelbar zur Erkrankung führende Rolle; im Gegenteil: es ist sogar bekannt, dass MS-Betroffene die meisten durch Viren bedingten Kinderkrankheiten vergleichsweise spät, schwach oder überhaupt nicht hatten.
Obwohl in den letzten Jahren auch immer wieder eine Auslösung oder gar Verursachung der MS durch giftige oder vermeintlich giftige Umweltstoffe wie organische Lösungsmittel oder Amalgam (in Zahnfüllungen) diskutiert wurde, gibt es dafür keine ernsthaften Argumente.
Hinterlassen Sie einen Kommentar
You must be logged in to post a comment.