In den letzten Jahrzehnten ist Stress in unserer Gesellschaft zu einem arg »gestressten« Modewort geworden, das als vermeintliche Erklärung und Ausrede für so manches herhalten muss. Sehr wahrscheinlich ist normaler Stress, der von Fachleuten auch als so genannter Eustress bezeichnet wird, nicht nur kein Risikofaktor für eine MS oder Auslöser von Schüben beziehungsweise Verschlechterungen, sondern sogar günstig. Wenn ein Mensch einer Gefahr oder besonderen Belastung ausgesetzt wird, reagiert sein Körper mit der vermehrten Freisetzung eines speziellen Hormons (des so genannten Adrenalins), das unter anderem zu einer erhöhten Aufmerksamkeit und Belastbarkeit einschließlich einer Zunahme der Muskelkraft führt. Diese in der Regel sehr nützliche Reaktion kann jedoch zu einem Problem werden, wenn gleichzeitig zu viele Stressfaktoren oder »Stressoren« vorliegen. Wie viel Stress nützlich und ab wann Stress schädlich ist, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch erheblich. Anzeichen für eine beginnende Überlastung sind zum Beispiel das Vergessen von Mahlzeiten, ein übermäßiges Trinken von Alkohol oder auch das Unvermögen sich auszuruhen und zu entspannen.

Insgesamt ist es weitgehend unbestritten, dass wir in einer zunehmend stressigen Zeit leben und der nützliche Eustress oft durch einen schädlichen, so genannten Distress abgelöst wird. Die vielfältigen Belastungen zum Beispiel am Arbeitsplatz und nicht zuletzt häufig auch in der Familie und Freizeit sind jedem Leser bestens vertraut. Menschen mit einer MS sind häufig noch zusätzlichem Stress ausgesetzt. Dazu gehören beispielsweise die Unsicherheit hinsichtlich des Zeitpunkts und der Umstände eines nächsten Schubes, die Notwendigkeit einer regelmäßigen Einnahme von Medikamenten und die Abhängigkeit von Dritten. Auffällig häufig geben MS-Betroffene bei einer Befragung rückblickend kurz vor Beginn ihrer Erkrankung ein stressreiches Ereignis in Verbindung mit dem Gefühl einer ausgeprägten Hilflosigkeit an.

Während kurzfristiger psychischer Stress in der Regel keine negativen Auswirkungen auf eine MS hat, können Schübe durch chronische Stressfaktoren wie zwischenmenschliche, familiäre oder außerfamiliäre Konflikte, unverarbeitete Verlusterlebnisse, einen subjektiv empfundenen Mangel an sozialer Unterstützung sowie allgemeine Ängste und depressive Episoden begünstigt werden. In der bisher umfangreichsten Untersuchung zu dieser Frage notierten 170 MS-Patienten über fünf Jahre systematisch alle als besonders belastend empfundenen Lebensereignisse. Bei den 95 Betroffenen mit akuten Schüben zeigte sich eine überzufällige Häufung von Schüben in Zusammenhang mit vermehrtem Stress in der Partnerschaft oder an der Arbeitsstelle.

Auch kontrollierte Studien zur Frage der Rolle von Stress, die neben den MS-Betroffenen auch entsprechende Kontrollgruppen von Gesunden oder Menschen mit anderen neurologischen Krankheiten berücksichtigt haben, ergaben Hinweise auf eine ungünstige, krankheitsfördernde Rolle von Stress bei MS. Sehr wahrscheinlich kommt die wesentliche Bedeutung dabei dem Einfluss von Stress auf das Immunsystem zu.