Sehstörungen bei MS beruhen meist auf einerEntzündung des Sehnerven (= Optikusneuritis oder kurz ON). Wenn die Sehnervenentzündung in erster Linie die Austrittsstelle des Sehnerven am Augenhintergrund (Sehnervenpapille) betrifft, spricht man von einer Papillitis. Sind hinter dem Auge liegende Sehnervenabschnitte betroffen, handelt es sich um eine Retrobulbärneuritis (RBN). Eine Papillitis und Retrobulbärneuritis sind also Sonderformen der Optikusneuritis.
Im Vordergrund steht meist ein innerhalb von Minuten bis Tagen stärker werdendes »Milchglas-«, »Schleier-« oder Verschwommensehen bis hin zum völligen Verlust des Sehvermögens (lateinisch: Visus) auf einem Auge, der sich innerhalb von wenigen Wochen ganz oder teilweise zurückbildet. Oft treten schon Stunden bis wenige Tage vor den Sehstörungen oder auch gleichzeitig Schmerzen in der Augengegend auf, die sich bei Augenbewegungen verstärken.
Häufig ist das Farbensehen und dabei die Farbe Rot besonders stark gestört. Dies beruht darauf, dass für eine Farbwahrnehmung einerseits mehr Sinneseindrücke nötig sind als für bloßes Hell-Dunkel-Empfinden und andererseits die Farbwahrnehmung besonders auf die zentralen Netzhautabschnitte konzentriert ist, deren Nervenfasern von einer Optikusneuritis meist bevorzugt betroffen werden. Im Gegensatz zu der meist innerhalb von Wochen bis Monaten eintretenden Normalisierung der Sehschärfe und des Gesichtsfeldes bleiben Störungen des Farbsehens häufiger bestehen.
Bei der Augenspiegelung kann der Arzt in aller Regel keine Besonderheiten feststellen (»Der Patient sieht nichts und der Arzt sieht auch nichts«). Ein Visusverlust ist üblicherweise in der Mitte des Gesichtsfeldes am stärksten und führt dort zu einem vollständigen oder teilweisen Ausfall, was in der Fachsprache als Zentralskotom bezeichnet wird. Wegen der Überlappung der Gesichtsfelder beider Augen ist dabei eine Prüfung des Sehvermögens getrennt für jedes Auge erforderlich.
Die so genannte afferente (zuführende) Pupillenstörung zeigt sich bei der Untersuchung dadurch, dass es bei einer seitengetrennten Beleuchtung (z. B. mit einer kleinen Taschenlampe) des kranken Auges zu einer langsameren und schwächeren Verengung der Pupille kommt als bei einer Beleuchtung des gesunden Auges.
Doppelbilder sind in der Regel Folge einer Störung im Hirnstamm zwischen den für die Augenbewegungen zuständigen Hirnnervenkernen, was in der medizinischen Fachsprache als internukleäre Ophthalmoplegie oder abgekürzt INO bezeichnet wird. Dabei bleibt das innere Auge beim Seitwärtsblick in der Mitte stehen und am äußeren Auge tritt ein Zittern (Nystagmus)
Bei etwa jedem sechsten MS-Betroffenen ist eine Sehnervenentzündung erstes Krankheitszeichen, im Verlauf der Erkrankung tritt sie allerdings bei mehr als jedem Zweiten auf. Gleichzeitig muss aber unbedingt betont werden, dass eine Optikusneuritis nicht notwendigerweise die Diagnose MS bedeutet. Immerhein etwa 30 Prozent der Betroffenen entwickeln auch über Jahrzehnte hinweg keine weiteren Krankheitserscheinungen, die einer MS zuzuordnen sind. Für die Abschätzung des weiteren Verlaufs haben sich die Befunde der Magnetresonanztomographie und der Lumbalpunktion mit Untersuchung des Liquors (= Nervenwassers) als hilfreich erwiesen. Der Nachweis von »stummen Plaques« im Gehirn durch das Magnetresonanztomogramm erhöht bei einer Optikusneuritis das Erkrankungsrisiko für eine MS auf bis zu 90 Prozent. Im Liquor ist der Nachweis von so genannten oligoklonalen Banden ein auf eine beginnende MS hinweisender Befund.