Störungen der geistigen Leistungsfähigkeit in Form vonherabgesetzter Aufmerksamkeit, Konzentrationsstörungen, vermehrter Vergesslichkeitoder anderer Denkstörungen werden in der Fachsprache zusammenfassend als kognitive oder neuropsychologische Störungen bezeichnet. Wie bei der verminderten körperlichen Leistungsfähigkeit glaubten selbst viele MS-Spezialisten lange Zeit, dass derartige Störungen bei der MS eher selten seien. Inzwischen weiß man aber, dass mindestens jeder zweite MS-Betroffene im Verlauf seiner Krankheit über kognitive Störungen klagt. Diese sind für Betroffene nicht zuletzt deswegen häufig sehr belastend, weil man sie ihnen nicht ansieht und Angehörige oder Dritte oft fälschlicherweise meinen, eine Vergesslichkeit oder Unaufmerksamkeit sei bewusst oder habe nichts mit der MS zu tun. Manchmal schätzen Betroffene derartige Beschwerden auch anders ein und befürchten, nun »verrückt« zu werden:
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungenmachen sich meist nur bei schwierigeren Aufgaben oder unter Stress bemerkbar. Häufig haben Betroffene Probleme, sich gleichzeitig auf mehr als eine Sache zu konzentrieren beziehungsweise mehrere Dinge nebeneinander zu erledigen. Dies ist aber eine häufige Anforderung sowohl im Berufsleben als auch im Haushalt und bei der Betreuung von Kindern. Manche Betroffene stellen dabei auch eine allgemeine Verlangsamung der Geschwindigkeit fest, mit der sie neue Informationen verarbeiten können.
Bei Gedächtnisstörungen ist zwischen den verschiedenen Bereichen des Gedächtnisses zu unterscheiden. Das so genannte »prozedurale Gedächtnis« ist dafür zuständig, sich daran zu erinnern, wie etwas gemacht wird und wird bei einer MS fast nie beeinträchtigt. Das so genannte »semantische Gedächtnis« ist für das Erinnern von Ereignissen, Worten oder Dingen zuständig und kann bei einer MS gestört sein. Das semantische Gedächtnis besteht aus drei Abschnitten oder Vorgängen. Im ersten Teil muss eine Information wahrgenommen und richtig eingeordnet werden, im zweiten erfolgt die entsprechende Speicherung und im dritten der Abruf bei Bedarf. Dieser letzte Vorgang ist bei einer MS am ehesten beeinträchtigt, das heißt die benötigte Information ist zwar irgendwo vorhanden, wird aber nicht gefunden. Am häufigsten ist dabei das so genannte Kurzzeitgedächtnis beziehungsweise Ereignisse der letzten Zeit betroffen. Daneben ist oft auch das so genannte »prospektive Gedächtnis« betroffen, worunter die Fähigkeit verstanden wird, ein geplantes Ereignis oder eine eingegangene Verabredung beziehungsweise Verpflichtung zu erinnern.
Sprachstörungen bei MS hängen meistens mit Gedächtnisstörungen zusammen und äußern sich als Wortfindungsstörungen oder Probleme mit der Sprachflüssigkeit.
Problemlösungsstörungen mancher Betroffener machen sich dadurch bemerkbar, dass besonders Schwierigkeiten in neuen, unvorhergesehenen Situationen nicht oder nur schwer gemeistert werden können. Manchmal werden dann immer wieder dieselben erfolglosen Lösungsversuche unternommen und keine neuen Ansätze probiert.
Andere Probleme können beispielsweise in Schwierigkeiten in der Verarbeitung visueller Informationen oder Orientierungsstörungen (mit Problemen, sich z. B. in einer Stadt oder in einem größeren Gebäude zurechtzufinden) bestehen.
Wenn nennenswerte kognitive Störungen vorhanden sind, sollten diese ebenso wie die körperlichen Beschwerden offen mit dem Neurologen besprochen werden. Bei einer Beeinträchtigung der Leistungsfahigkeit im Alltag sollte im Zweifelsfall eine neuropsychologische Untersuchung erfolgen, um Art und Ausmaß der Störungen genauer feststellen zu können. Allerdings können Neurologen diese Untersuchung in der Regel nicht selbst durchführen, und es gibt bislang sowohl an Kliniken als auch in Praxen noch relativ wenige geeignete Untersuchungs stellen.
So wie eine MS zu den unterschiedlichsten körperlichen Störungen führen kann, schwanken auch Art und Ausmaß eventueller kognitiver Störungen zwischen den Betroffenen. Es gibt keine sichere Beziehung zwischen der Schwere körperlicher und kognitiver Störungen. So können ausgeprägte Gang- oder Gleichgewichtsstörungen vorhanden sein, ohne dass Hinweise auf neuropsychologische Ausfalle bestehen oder es treten schon früh Denk- und Gedächtnisstörungen auf, ohne dass nennenswerte körperliche Beschwerden oder gar Behinderungen vorliegen. Manche Betroffenen leiden früh und vergleichsweise stark darunter, während sie bei anderen auch nach vielen Jahren überhaupt nicht auftreten. Es liegt auf der Hand, dass solche Störungen im Alltag nicht nur bei einer Berufstätigkeit von großer Bedeutung sein können.
Als grobe Faustregel lässt sich sagen, dass das bei der Magnetresonanztomographie festgestellte Ausmaß von Veränderungen (die so genannte Gesamtläsionslast) eine gewisse Vorhersage bezüglich des Vorhandenseins und der Stärke kognitiver Störungen erlaubt. Allerdings schließen geringfügige MRT-Veränderungen kognitive Störungen nicht aus und umgekehrt gibt es auch Betroffene mit massiven MRT-Veränderungen ohne kognitive Störungen. Eine genaue Überprüfung ist nur durch eine spezielle neuropsychologische Untersuchung möglich. Dabei ist darauf zu achten, dass zum Zeitpunkt einer Testung keine Medikamente wie Benzodiazepine oder Kortikosteroide eingenommen werden, die einen nachteiligen Einfluss auf die geistige Leistungsfahigkeit haben können.
Besonders ängstliche oder depressive MS-Betroffene neigen dazu, ihre geistige Leistungsfähigkeit eher zu unterschätzen. Andere wehren sich bewusst oder unbewusst, das Vorhandensein selbst starker Störungen zu akzeptieren und führen diese auf äußere Umstände wie Veränderungen am Arbeitsplatz oder einen Infekt zurück. Auch die entsprechenden Einschätzungen von Familienangehörigen oder Freunden können durchaus falsch sein.