Die Sicherheit der Diagnose einer MS ist von Betroffenem zu Betroffenem und bei jedem Einzelnen im Verlauf seiner Krankheit verschieden. Hundertprozentig sicher ist die Diagnose einer MS zu Lebzeiten eigentlich nie, weil nur der feingewebliche Befund im Gehirn und Rückenmark die Diagnose eindeutig belegen kann. Die Sicherheit steigt allerdings mit der Anzahl der vorliegenden Merkmale, die üblicherweise zu dem Krankheitsbild gehören. Bei einer sorgfältigen Anwendung aller heute zur Verfügung stehenden Untersuchungs möglichkeiten sind verbleibende Zweifel zumindest nach einiger Zeit nur noch gering. Dennoch bereitet die diagnostische Unsicherheit vielen Betroffenen verständlicherweise besonders zu Beginn der Krankheit große Mühe.

Auch für die behandelnden Ärzte ist diese Situation oft unbefriedigend. Wenn es darum geht, einern Patienten eine bestimmte Behandlung zu empfehlen, möchten sie natürlich sicher sein, dass die Diagnose zutreffend ist. Noch schwieriger wird die Situation, wenn die Wirkung von neuen Medikamenten untersucht werden soll. Ein Wirksamkeits nachweis ist verständlicherweise nur dann zu führen, wenn das Medikament auch bei der richtigen Krankheit eingesetzt wurde. Diese Probleme bestehen nicht nur bei der MS, sondern auch bei vielen anderen Erkrankungen. Wie bei diesen versucht man deshalb schon lange, verbindliche Richtlinien (Kriterien) aufzustellen, nach denen eine MS möglichst sicher und überein stimmend erkannt werden kann.

Nach ersten Versuchen in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts (so genannte Bauer-Kriterien) wurden in den 80er-Jahren durch eine amerikanische Arbeitsgruppe Kriterien zur Feststellung einer MS aufgestellt, die in der Folge auch in Europa weitgehend übernommen wurden. Die nach dem verantwortlichen Autor der Arbeitsgruppe auch als Poser-Kriterien bezeichneten Richtlinien ermöglichten unter Einbeziehung von Liquor, evozierten Potenzialen und bildgebender Diagnostik als Ergänzung zur klinischen Untersuchung eine Einstufung der diagnostischen Sicherheit.

Im Vergleich zu den zuvor in Europa gültigen Richtlinien wurde die Wertigkeit des Liquorbefundes deutlich abgeschwächt. Während früher die für MS typischen Liquorveränderungen nachgewiesen werden mussten,um vorn Vorliegen einer »klinisch sicheren« MS auszugehen, war diesdurch die erheblich verbesserte Aussagekraft von als paraklinisch bezeichneten Untersuchungsverfahren wie der Magnetresonanztomographie (MRT) und den evozierten Potenzialennicht mehr unbedingt erforderlich. Es erfolgt eine Unterscheidung in »klinisch«, »paraklinisch« und »liquorgestützt« sichere MS, von denen die beidenletzten Gruppen manchmal wiederum als »Iaborunterstützt« oder »laborgestützt« zusammengefasst werden.

Der zweite wichtige Unterschied der Poser-Kriterien gegenüber den früheren Kriterien war, dass die früher neben den beiden Gruppen »sichef« und »wahrscheinlich« geführte dritte »mögliche« Gruppe völlig fallen gelassen wurde. Da nicht nur in der Medizin fast alles »möglich« ist, war diese Diagnose ohnehin für Betroffene wie Ärzte gleichermaßen mehr verwirrend als klärend oder hilfreich. Es ist für jeden Menschen möglich, an einer MS zu erkranken; bevor man diese Diagnose stellt, sollte aber zumindest eine ausreichende Wahrscheinlichkeit bestehen. Möglich ist eine MS bei jeder schubförmig verlaufenden Erkrankung, deren Beschwerden und Befunde zwar auf eine MS hindeuten, ohne dass ein Anhalt für eine andere Krankheit besteht, bei der eine MS aber nicht ausreichend wahrscheinlich belegt werden kann. Wichtigste Beispiele sind die Sehnervenentzündung (Retrobulbärneuritis, ) und die umschriebene Rückenmarksentzündung (Querschnittsmyelitis ), die häufiger auftreten, ohne dass sich daraus im weiteren Verlauf eine MS entwickelt.

Die Zusätze »klinisch«, »paraklinisch« und »liquorgestützt« sollen betonen, dass es bei den derzeitigen Untersuchungsmethoden stets nur eine auf Erfahrung beruhende Einordnung ist, die zwar durch verschiedene Befunde untermauert, aber nie mit letzter Sicherheit oder zweifelsfrei belegt werden kann. Der Ausdruck »klinisch« bezieht sich auf die Krankheitsvorgeschichte, die Beschwerden, den Verlauf und die Ergebnisse der körperlichen Untersuchung, also ohne Berücksichtigung von technischen oder Laboruntersuchungen.

Eine klinisch sichere (andere Bezeichnungen: klinisch eindeutige oder klinisch gesicherte) MS liegt also vor, wenn mindestens zwei Schübe aufgetreten sind und klinische Hinweise auf mindestens zwei Herdbefunde vorliegen . Eine paraklinisch sichere MS liegt vor, wenn mindestens zwei SchÜbe abgelaufen sind und der klinische Hinweis auf einen Herd und auf einen weiteren aus der Zusatz diagnostik (MRT oder evozierte Potenziale) vorliegt (A2). Für eine liquorgestützt sichere MS
sind schon mehrere Kombinationen möglich (Bl bis B3) und bei einer wahrscheinlichen MS fehlt immer eine der genannten Voraussetzungen (siehe Cl bis C3 und Dl). Etwas uneinheitlich wird die Eingruppierung von Betroffenen mit einem primär chronisch-progredienten Verlauf gehandhabt. Während manche hier bei einem Beobachtungszeitraum von mindestens einem Jahr und Ausschluss anderer Ursachen der Beschwerden ebenfalls von einer sicheren MS sprechen, wird manchmal eine längere Verlaufsbeobachtung gefordert.

Als zwei Schübe gelten jeweils mindestens einen Tag lang anhaltende Beschwerden (= schubförmig bzw. »remittierend«) im Abstand von mindestens einem Monat (siehe auch S.97). Die Einstufung als zwei »klinische Läsionen« erfordert, dass mindestens zwei Krankheitsherde an verschiedenen Stellen des Gehirns oder Rückenmarks vorhanden sein müssen, zum Beispiel am Sehnerv und im Rückenmark (= multiples oder disseminiertes Krankheitsgeschehen).
Unabhängig von jeder Einteilung und von allen diagnostischen Kriterien kann jedes einzelne dieser Merkmale einschließlich ihrer Kombination auch bei anderen Krankheiten vorkommen. Der behandelnde Arzt ist daher stets verpflichtet, diese wenn auch seltenen Möglichkeiten auszuschließen. Dies gilt im weiteren Verlauf selbst bei bereits »klinisch sicherer« MS-Diagnose.

Anfang 2001 legte eine internationale Arbeitsgruppe einen neuen Vorschlag für diagnostische Kriterien bei MS vor. Dieser ebenfalls nach dem Erstautor als »McDonald-Kriterien bezeichnete Vorschlag. Im Vergleich zu den Poser-Kriterien sind insbesondere folgende Änderungen wichtig:

  • keine Unterscheidung mehr zwischen “sicherer” und “wahrscheinlicher” MS,
  • nur im Untersuchungsbefund nachweisbare Auffälligkeiten werden klinisch bewertet,
  • keine Unterscheidung mehr zwischen “klinischer” und “paraklinischer” bzw. “liquorgestützter” oder “laborgestützter” bzw “laborunterstützter” MS,
  • Angabe von Mindestzahlen von Läsionen im MRT in Abhängigkeit von den sonstigen Befunden,
  • ei den evozierten Potenzialen nur noch Berücksichtigung der visuell evozierten Potenziale (VEP).

Die Verfasser der neuen Kriterien raten von der Verwendung bislang gebräuchlicher Diagnosen wie »wahrscheinliche MS« oder »laborgestützte MS« ab und schlagen nur noch drei Möglichkeiten vor:

  1. MS,
  2. keine MS und
  3. möglicherweise MS, wenn die Diagnose (noch) nicht eindeutig zu stellen ist.

Kritische Kommentare zu den neuen diagnostischen Kriterien beziehen sich sowohl auf die Wiedereinführung der Gruppe »möglicherweise MS« (derartig Betroffene werden einerseits bei wissenschaftlichen Untersuchungen vorsichtshalber nicht berücksichtigt, betrachten sich selbst aber in der Regel als MS-Patienten) als auch darauf, dass nur noch nachweisbare, »objektive« Krankheitszeichen zählen. Nicht objektivierbare Symptome wie Kribbelgefühle, abnorme Müdigkeit, Schwindel oder Trigeminusneuralgien bzw. andere Schmerzen sind aber bei der MS sehr häufig und oft viel typischer als die neurologischen Ausfallsymptome.

Ob die »McDonald-Richtliniem die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen, bleibt abzuwarten. So »objektiv« und frei von persönlichen Einschätzungen sie erscheinen, so wenig werden sie doch oft der Wirklichkeit gerecht. Viele MS-Betroffene, die diese strengen Richtlinien nicht erfüllen, suchen einen Arzt auf und wollen natÜrlich wissen, woran sie erkrankt sind. Oft weiß der Arzt auf grund der Untersuchungsergebnisse und seiner besonderen Kenntnis der Erkrankung, dass es sich nur um eine MS handeln kann. Es gibt dann auch keinen vernÜnftigen Grund, die Diagnose MS nicht zu stellen, nur weil die Kriterien der neuen Richtlinien nicht erfüllt sind. Diese geläufige Situation war auch den Autoren bewusst, die u.a. betonten, »dass die Diagnose MS am besten von einem Experten gestellt wird, der mit der Erkrankung vertraut ist, die Differenzialdiagnosen kennt und die Untersuchungs ergebnisse interpretieren kann«.