Die visuell evozierten Potenziale (VEP) überprüfen die »Sehbahn« von der Netzhaut bis zu den für das Sehen verantwortlichen Nervenzellen im Hinterkopf. Als Reiz wird in der Regel ein Schachbrettmuster mit rasch wechselnder Helligkeit der Felder benutzt, gelegentlich auch ein Lichtblitz, der jedoch zu weniger empfindlichen und verlässlichen Untersuchungsergebnissen führt. Es werden sowohl beide Augen gemeinsam als auch jedes Auge getrennt untersucht . In erster Linie wird die Zeit bis zum Auftreten des ersten Gipfels eines typischerweise »M«-förmigen Potenzials sowie die Höhe des ersten Gipfels oder Ausschlags (Amplitude) des wegen des Auftretens nach normalerweise 100 Millisekunden auch als »P 100« bezeichneten Antwortpotenzials ausgewertet.

Mit den VEPs lassen sich bei der MS sowohl frische als auch frühere und unter Umständen unbemerkt abgelaufene Sehnervenentzündungen nachweisen. Typische VEP-Veränderungen bestehen in einer verlangsamten Erregungsleitung mit verlängerter Latenz der häufig zusätzlich verkleinerten Potenzialschwankung auf der Seite des Sehnervenbefalls . Bei einer akuten Retrobulbärneuritis (REN) kommt es als Ausdruck des »Leitungsblocks« parallel zur Abnahme der Sehkraft am betroffenen Auge in der Regel zu einer Abnahme der P 100 bis hin zum völligen Potenzialverlust. Im Verlauf des Abklingens der REN zeigt sich dann meist eine Erholung der Amplitude, jedoch eine auf die unzureichende Remyelinisierung des Sehnerven zurückzuführende starke Latenzverzögerung.

Damit man als Betroffener selbst einen Sehverlust feststellen kann, müssen mindestens die Hälfte der Nervenbahnen im Bereich der Sehnervenpapille von der Entzündung betroffen sein. Ein Vorteil der VEP besteht darin, dass auch schon bei leichteren, unbemerkt verlaufenden Entzündungen ein Nachweis möglich ist. Bei sehr leichtgradiger Sehnervenentzündung können die VEP allerdings normal bleiben.

Die Häufigkeit krankhafter Befunde der VEPs bei MS liegt zu Beginn einer Erkrankung bei unter 50 Prozent, über den ganzen Verlauf betrachtet aber bei durchschnittlich 80 Prozent. Im späteren Verlauf einer MS finden sich häufig sowohl Latenzverlängermgen als auch Verplumpungen der P 100.