Das Ziel der Langzeitbehandlung besteht in einer anhaltenden Hemmung der Entzündungsaktivität der MS und damit in einer so genannten Prophylaxe. Diese soll die Zahl und Schwere von weiteren Schüben verringern und die langsame Zunahme der Ausfallserscheinungen aufhalten. Dazu werden Medikamente eingesetzt, die die Reaktion des Immunsystems verändern (Immunmodulatoren) oder dauerhaft unterdrücken (Immunsuppressiva). Oft werden unter der Bezeichnung »Immunmodulatoren« oder auch »Immunprophylaktika« alle Medikamente zusammen gefasst, die einen Effekt auf das Immunsystem haben, also auch die Immunsuppressiva.
Im Gegensatz zu den Kortikoiden, die nur kurzfristig verabreicht werden, erfolgt eine Langzeittherapie über mehrere Jahre. Dies bedeutet jedoch nicht notwendigerweise lebenslang, sondern die Behandlung kann auf Zeitabschnitte beschränkt werden, in denen die MS besonders viele Beschwerden macht. Langzeittherapie bedeutet auch nicht, dass die behandelten Patienten in dieser Zeit frei von jeglichen Krankheitserscheinungen sind. Wie schon mehrfach betont wurde, ist der zu erwartende Behandlungserfolg im Einzelfall leider nicht vorhersehbar. Die Kenntnisse über die Wirkung der Langzeitbehandlung sind noch lückenhaft. Welche der vielfältigen Effekte, die im Immunsystem nachweisbar sind, für die Beeinflussung des Krankheitsverlaufs letztlich verantwortlich sind,ist noch nicht klar. Dennoch besteht inzwischen unter den Experten eineweitgehende Übereinstimmung, wie die Langzeittherapie durchgeführt werden soll.
Interferon-beta (IFN-ß) wird schon seit mehr als zehn Jahren zur Langzeitbehandlung der MS eingesetzt. Es handelt sich um ein auch normalerweise im Körper gebildetes Eiweiß, das bestimmte Entzündungsvorgänge stark unterdrückt. Die Wirkung beruht vermutlich darauf, dass Interferon-beta aktivierte T-Lymphozyten daran hindert, die Basalmembran von Blutgefäßen zu durchdringen, wodurch sie nicht in das Nervensystem übertreten können. Zusätzlich hemmt es die Produktion entzündungs fördernder Eiweiße.
Gegenwärtig sind drei Interferon-beta-Präparate im Handel, die bei der MS eingesetzt werden (Handels namen: Rebif, Avonex und Betaferon). Diese Präparate unterscheiden sich in ihrer Dosierung und der Anwendungsart. Sie können nicht als Tabletten genommen werden.
- Rebif (Interferon-beta-1a) hat zwei Wirkstärken von sechs und zwölf Millionen Einheiten (= 22 oder 44 Mikrogramm ) und wird dreimal wöchentlich unter die Haut (subkutan) gespritzt.
- Avonex (Interferon-beta-1a) wird in einer Menge von sechs Millionen Einheiten (= 30 Mikrogramm]) einmal wöchentlich in einen Muskel (intramuskulär) gespritzt.
-Betaferon (Interferon-beta-1b) wird in einer Menge von acht Millionen Einheiten (= 250 Mikrogramm) jeden zweiten Tag unter die Haut (subkutan) gespritzt.
Interferon-beta-1a wird aus Säugetierzellen gewonnen. Die Vorteile gegenüber dem aus Bakterien gewonnenen Interferon-beta-1 b bestehen darin, dass es seltener zur Bildung von neutralisierenden Antikörpern kommt und mit einer wesentlich geringeren Substanzbelastung einhergeht, was auch zu einem günstigeren Nebenwirkungsprofil führt.
Inzwischen sind die erwünschten und unerwünschten Wirkungen von Interferon-beta gut bekannt. In zahlreichen kontrollierten Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass sie nicht nur die Zahl und Schwere von Schüben vermindern, sondern auch das Fortschreiten der neurologischen Behinderung verlangsamen und abschwächen können. Die Hemmung der Entzündungsaktivität lässt sich auch inm Magnetresonanztomogramm nachweisen, und die Zahl neuer Entzündungsherde im Gehirn ist unter Interferon-beta deutlich geringer als bei nicht behandelten Vergleichsgruppen.
Die Betroffenen müssen sich Rebif und Betaferon wie bei der Insulinbehandlung einer Zuckerkrankheit unter die Haut und Avonex in die Muskulatur spritzen. Die entsprechenden Techniken kann man unter Anleitung von Ärzten oder teilweise speziell geschultem Pflegepersonal (MS-Schwestern) erlernen. Daneben stehen auch zahlreiche Hilfsmittel zur Verfügung, an denen man die Injektionstechnik üben kann oder die das Selbstspritzen unter die Haut erleichtern (so genannte Auto-Injektoren).
Glatirameracetat (Handels name Copaxone) war in einigen Ländern wie den USA oder der Schweiz bereits einige Jahre früher auf dem Markt und ist 2001 auch in Deutschland und Österreich zugelassen worden. Es handelt sich um ein dem basischen Myelinprotein ähnelndes Eiweißgemisch aus den vier Aminosäuren Glutamin, Lysin, Alanin und Tyrosin (auf den vier Anfangsbuchstaben beruht auch der Name), das in einer Dosis von 20 Milligramm täglich unter die Haut gespritzt wird. Nach den bisherigen Studien vermindert Glatirameracetat wie die Interferone ebenfalls die Schubrate, vor allem bei gering betroffenen Patienten. Eine Verminderung der Krankheitsprogression ist allerdings noch nicht nachgewiesen worden.
Als Wirkungsmechanismus wurde zunächst eine Verdrängung von basischem Myelinprotein aus den Bindungsstellen der antigenpräsentierenden Zellen angenommen. Dies würde zu einer Hemmung der ansonsten von aktivierten T-Lymphozyten bewirkten Vorgänge, wie der Bildung von Interferon-gamma und Interleukin, führen. Derzeit geht man davon aus, dass Glatirameracetat eine Verschiebung der T-Helferzellen-Lymphozytenantwort vom zytotoxischen THj- zum entzündungshemmenden und eher schützenden TH2-Typ bewirkt, wodurch am Ort der entzündlichen Vorgänge im Zentralnervensystem schützende Zytokine ausgeschüttet werden. Weil Vergleichsuntersuchungen fehlen, ist zurzeit keine Beurteilung der Wirksamkeit von Glatirameracetat gegenüber Interferon-beta möglich. Auch über eine kombinierte Anwendung von Interferon-beta und Glatirameracetat ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Zu den für eine so genannte Basistherapie der MS zur Verfügung stehenden Medikamenten zählen neben Interferon-beta und Glatirameracetat auch noch Immunglobuline und unter den Immunsuppressiva das Azathioprin.
Immunglobuline sind Eiweiße im Blutplasma, die als Antikörper an den Immunreaktionen des Körpers teilnehmen ). Sie können körperfremde Antigene erkennen und abwehren, indem sie diese in Form so genannter Antigen-Antikörper-Komplexe binden oder neutralisieren. Dem Körper zusätzlich als intravenöse Infusion zugeführte Immunglobuline (Mg) werden schon seit vielen Jahren bei zahlreichen Erkrankungen eingesetzt, bei denen Veränderungen des Immunsystems eine Rolle spielen. Dabei handelt es sich um ein Gemisch aus dem Plasma von 2000 bis 5000 Spendern. Auch bei der MS wurden Immunglobuline in hohen Dosierung versuchsweise schon früher verabreicht, wobei zum Beispiel in der Almtbehandlung schwerer Schübe Besserungen beobachtet wurden.
Inzwischen liegen Studien vor, die bei regelmäßigen Infusionen von Immunglobulinen im Vergleich zu Infusionen eines Scheinmedikaments (Plazebo) bei schubförmigem MS-Verlauf Vorteile mit häufigeren Besserungen und stabilen Verläufen sowie selteneren Verschlechte rungen nachweisen konnten. Für chronisch-progrediente Verläufe gibt es bisher keinen Wirksamkeitsnachweis und es ist auch noch nicht bekannt, ob eine Langzeitbehandlung mit Immunglobulinen eine MS dauerhaft beeinflussen kann. Über die Dosierung und Anwendungsdauer herrscht ebenfalls noch Unklarheit; so wurden nach einer anfanglichen Gabe von 0,4 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht an fünf aufeinander folgenden Tagen monatliche Dosen zwischen 0,15 und 4 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht eingesetzt, und die Anwendungsdauer schwankt zwischen einigen Monaten und mehreren Jahren. Möglicherweise besteht eine spezielle Indikation für den Einsatz von Immunglobulinen bei Frauen mit MS, die nach einer früheren Geburt im Wochenbett unter dadurch ausgelösten Schüben litten und die durch eine vorsorgliche Gabe von Immunglobulinen bei der Geburt eines weiteren Kindes davor geschützt werden können. Allerdings sind Immunglobuline bislang von den Behörden noch nicht für die Behandlung der MS zugelassen worden.
Azathioprin (Handelsname z. B. Imurek): Einige Untersuchungen konnten zeigen, dass eine mehrjährige Therapie eine Abschwächung der Krankheitserscheinungen im Schub und eine Verringerung der Schubhäufigkeit bewirken kann. Diese Studien weisen zwar teilweise methodische Mängel wie geringe Patientenzahlen oder kein doppelblindes Design auf, auf der anderen Seite vertreten manche Fachleute aber die Auffassung, dass die schubvermindernde Wirkung von Azathioprin durchaus mit derjenigen der Interferone und von Glatirameracetat vergleichbar ist. Auch eine zusammenfassende Auswertung (so genannte Meta-Analyse) der Ergebnisse von sieben Studien mit Azathioprin bei insgesamt rund 800 MS-Patienten bestätigte eine Schubverminderung, konnte aber keinen sicheren Effekt auf den Langzeitverlauf beziehungsweise das Fortschreiten der Behinderung nachweisen.
Azathioprin wird täglich als Tabletten eingenommen, wobei die übliche Startdosis von 2-3 mg pro Kilogramm Körpergewicht im Verlauf in Abhängigkeit von Veränderungen im Blutbild angepasst wird.
Neben den bislang genannten Medikamenten haben noch andere Immunsuppressiva einen Platz in der Langzeitbehandlung der MS.
Mitoxantron (Handelsname z. B. Novantron) ist ein in der Krebstherapie schon längere Zeit eingesetztes Medikament. Bei der MS wird es in Abständen von etwa drei Monaten als Infusion mit einer Dosis von 12 Milligramm pro Quadratmeter Körperoberfläche verabreicht. Mitoxantron kann auch bei fortgeschrittener MS noch eine günstige Wirkung auf die Schubrate und Zunahme der Behinderung haben und wird aus diesem Grund bei der Behandlung ungünstiger Verlaufsformen als Mittel der ersten Wahl zur so genannten Therapieeskalation angesehen.
Cyclophosphamid (Handels name z. B. Endoxan): »Kurmäßige« Behandlungen über einige Wochen mit Cyclophosphamid (als Infusion oder in Tablettenform) bei Patienten mit chronisch-progredientem MS-Verlauf konnten in kleineren Studien ein Aufhalten der Verschlechterung, manchmal sogar eine Verbesserung zeigen. Insgesamt besteht gegenüber Mitoxantron und Azathioprin eine deutlich schlechtere Verträglichkeit, weshalb ein Einsatz nur bei rasch progredientem Verlauf und Versagen sowohl von Interferon-beta und Glatirameracetat als auch Mitoxantron im Rahmen der so genannten immunmodulatorischen Stufenbehandlung mit Therapieeskalation in Betracht kommt.
Methotrexat (Handels name z. B. Lantarel) wird ebenfalls seit vielen Jahren zur Behandlung von Krebs oder rheumatischen Leiden eingesetzt. In einer vergleichsweise niedrigen wöchentlichen Dosis (7,5 mg als Tablette) konnte unter anderem in einer amerikanischen Untersuchung bei rasch progredientem MS-Verlauf eine Verlangsamung des Fortschreitens von Behinderungen in den Beinen erreicht werden, während sich ansonsten keine sicheren Auswirkungen der Behandlung nachweisen ließen. In einer anderen Untersuchung bei chronisch-progredientem MS-Verlaufschritt die Erkrankung unter Methotrexat zwar nur bei etwa jedem zweiten Betroffenen im Vergleich zu über 80 Prozent in der Plazebogruppe fort; dennoch gaben bei Studienende in beiden Gruppen jeweils zwei Drittel an, subjektiv habe sich ihr Zustand verschlechtert.
Ciclosporin A (Handels name z. B. Sandimmun) ist ein weiteres Immunsuppressivum, das sich besonders bei der Verhinderung oder Abschwächung von Abstoßungsreaktionen nach Organverpflanzungen bewährt hat. Zur Langzeitbehandlung der MS hat sich dieses Medikamentauch wegen möglicher schwerer Nebenwirkungen insgesamt jedoch nicht durchgesetzt.