In den letzten Jahren hat die Entwicklung neuer Medikamente zur Behandlung der MS einen enormen Auftrieb bekommen. Mit zunehmender Kenntnis der gestörten Funktionen des Immunsystems wird versucht, die veränderte Immunantwort immer gezielter zu beeinflussen und damit den Langzeitverlauf zu verbessern. Dabei kommt es darauf an, dass die neuen Medikamente möglichst nicht nur eine bessere Wirkung haben als die bisher bekannten, sondern auch weniger unerwünschte Wirkungen.
Dass dies nicht immer der Fall ist, zeigte sich beim WirkstoffRoquinirnex. Dieser Stoff wirkt auf die weißen Blutkörperchen und wurde in Tablettenförm eingenommen. In ersten Untersuchungen konnten sowohl im Tiermodell der experimentell-allergischen Enzephalomyelitis (EAE) als auch bei Betroffenen mit chronisch-progredienten MS-Verläufen günstige Einflüsse nachgewiesen werden. Weitere Studien bei MS-Kranken wurden jedoch wegen schwer wiegender Nebenwirkungen abgebrochen.
Der humanisierte monoklonale Antikörper Natalizurnab verhindert das Eindringen von Lymphozyten aus der peripheren Blutbahn in das Zentralnervensystem. Dadurch lassen sich bei der MS offenbar Entzündungsprozesse und eine damit verbundene Demyelinisierung eindämmen. Im Jahr 2001 erstmals vorgestellte Ergebnisse einer frühen klinischen Studie waren jedenfalls sehr ermutigend: Im Vergleich zu Plazebo konnte innerhalb eines halben Jahres unter einer nur einmal monatlich erfolgenden intravenösen Behandlung eine achtzigprozentige Verminderung frischer, Kontrastmittel anreichernder ZNS-Läsionen nachgewiesen werden.
Orales Myelin wurde unter der Vorstellung geprüft, dass es bei oraler Zufuhr dieses Stoffes wie bei einer Desensibilierungsbehandlung wegen Heuschnupfens im Körper der Betroffenen zu einer so genannten Toleranzentwicldung kommt, die dann dazu führt, dass keine oder weniger Antikörper gegen das Myelin der Markscheiden gebildet werden. In den USA war orales Myelin in einer großen multizentrischen Studie allerdings nicht erfolgreich. Außerdem ist unter anderem zu bedenken, dass das Myelin von Rindern stammt, was zumindest in Europa in Anbetracht der Diskussion um die Übertragbarkeit der Rinderseuche BSE auf den Menschen nicht unproblematisch erscheint.
Cladribin (Handelsname Leustatin) wirkt auf die weißen Blutkörperchen und wird schon seit langem bei einer bestimmten Form von Blutkrebs, der so genannten Haarzell-Leukämie, eingesetzt. Nach ersten Untersuchungen schien diese Substanz das Fortschreiten von chronisch progredienten MS-Erkrankungen vermindern zu können, in größeren Studien zeigte sich jedoch bislang keine nennenswerte Wirksamkeit. Nachteilig ist die intravenöse Gabe und die Notwendigkeit von Blutbildkontrollen.
4-Aminopyridin (4-AP) ist ein chemischer Stoff, der die Leitfähigkeit von Nervenzellmembranen für Kalium vermindert und damit ihre Funktion vorübergehend außer Kraft setzen kann. Nach vorläufigen Erfahrungen scheinen möglicherweise besonders MS-Betroffene mit einer Hitzeempfindlichkeit von einer Einnahme dieses Mittels zu profitieren. Leider hat aber auch 4-Aminopyridin eine Reihe von unter Umständen schwer wiegenden Nebenwirkungen wie das Auslösen epileptischer
Anfälle, weshalb die Ergebnisse weiterer Untersuchungen abgewartet werden müssen.
Weitere mögliche Behandlungsansätze zielen auf eine Beeinflussung des so genannten Tumor-Nekrose-Faktors (TNF). Der Tumornekrosefaktoralpha (TNFcx) ist ein von Makrophagen gebildetes entzündungsförderndes Zytolkin, das u.a. über eine Vermehrung von so genannten Zelladhäsionsmolekülen den Übertritt aktivierter T-Lymphozyten in das Zentralnervensystem erleichtert und im Nervensystem eine Zellschädigung begünstigt. Nachdem erste Versuche einer Beeinflussung von TNFcx weder pharmakologisch noch biologisch erfolgreich beziehungsweise verträglich waren, wurde Ende 2001 aus den USA über sehr gute Erfahrungen mit der SubstanzPirfenidon bei chronisch-progressiver MS in einer kleinen Pilotstudie berichtet. Pirfenidon hemmt die Synthese von TNF-cx und blockiert die Rezeptoren dafür. Bei 14 von 20 behandelten Patienten (= 70 %) karn es unter zweijähriger Einnahme von Pirfenidon im Vergleich zum Ausgangsbefund nach etwa drei Monaten zu einer Besserung oder zumindest Stabilisierung, die im weiteren Verlauf ohne Nebenwirkungen anhielt. Jeweils drei Patienten brachen die Behandlung vorzeitig wegen Nebenwirkungen im Magen-Darm-Bereich oder aus anderen, persönlichen Gründen ab. Zur Überprüfung dieser hoffnungsvollen Ergebnisse sind aber weitere, insbesondere größere und doppelblind angelegte Studien erforderlich.
Die Plasmapherese oder Plasrnaseparation ist ein technisch aufwändiges Verfahren, bei dem den Kranken ähnlich wie bei einer künstlichen Niere Blut entnommen wird, das dann durch eine Zentrifuge in seine festen (= Blutzellen) und flüssigen Bestandteile (= Plasma) getrennt wird. Das Plasma mit den darin enthaltenen Antikörpern, Immunkomplexen und anderen Botenstoffen des Immunsystems wird anschließend durch frisches Plasma (von anderen Menschen) ersetzt und zusammen mit den Blutzellen dem Körper wieder zugeführt. Diese Behandlungsmethode soll hier kurz erwähnt werden, obwohl es sich dabei nicht um ein Medikament handelt. Nachdem zunächst häufiger über Besserungen berichtet worden war, konnte eine doppelblinde Vergleichsuntersuchung (siehe dazu übernächster Abschnitt) bei über 100 MS-Kranken in den USA, bei der entweder eine »echte« Plasmapherese oder nur eine Scheinbehandlung durchgeführt worden war, keinen anhaltenden Nutzen nachweisen. Dennoch wird die Methode vereinzelt noch bei sehr schweren Schüben angewandt, die auf eine übliche Behandlung mit Kortikosteroiden nicht ansprechen. Abänderungen der Plasmapherese bestehen in der so genannten Leukapherese undLiquorphorese oder Liquorfiltration (bei der anstelle des Blutplasmas das Nervenwasser gereinigt wird).
Bei Interferon-beta und auch Glatirameracetat wird zurzeit geprüft, ob
sie auch als Tabletten beziehungsweise oral oder als Spray zugeführt werden können. Ein Problem besteht dabei darin, dass sie aus Proteinen (Eiweißen) bestehen, die normalerweise im Magen-Darm-Kanal im Rahmen der Verdauung zerlegt werden und damit wahrscheinlich ihre Wirksamkeit verlieren. Die bisherigen Versuche waren auch nicht Erfolg versprechend.
Weitere, in der Zukunft möglicherweise zum Einsatz kommende Behandlungsverfahren bestehen in einer so genannten T-Zell-Vakzination oder autologen Stammzelltransplantation. Das Prinzip der T-Zell-Vakzination beruht auf der antigenspezifischen Unterdrückung von Autoimmunreaktionen durch T-Zellen der Betroffenen, die außerhalb des Körpers vermehrt und inaktiviert oder attenuiert (abgeschwächt) werden. Das Prinzip der Stammzelltransplantation beruht darauf, dass das Knochenmark der Kranken zunächst zerstört und danach durch zuvor entnommene und außerhalb des Körpers vermehrte Stammzellen der Betroffenen wieder neu aufgebaut wird. Ein Hauptproblem dieses Behandlungsansatzes liegt in der noch immer hohen Sterblichkeit von drei bis fünf Prozent.
Ob ein Medikament oder anderes Behandlungsverfahren bei der MS ausreichend gut wirkt und verträglich ist, muss immer in zeit- und kostenaufwändigen kontrollierten Studien herausgefunden werdensodass ein möglicher Fortschritt dem einzelnen Betroffenen immer zu langsam erscheint. Der Fortschritt ist auch nie so spektakulär, wie es manch andere Therapiemethoden vorgaukeln.
Unter evidenzbasierter Behandlung oder Medizin versteht man eine Behandlung auf der Grundlage von Evidenz (gesichertem Wissen) mit Anwendung von Methoden, deren Wirksamkeit durch aussagekräftige Studien nachgewiesen ist. Wenn ein Patient mitMedikamenten oder anderen medizinischen Maßnahmen behandelt
wird, geht er in der Regel davon aus, dass diese Maßnahmen bei seiner
Erkrankung auch wirklich wirksam sind. Dies war in der Medizin jedoch lange Zeit keineswegs selbstverständlich. Oft haben persönliche Einstellungen und mehr oder weniger zufällige Erfahrungen des Arztes, Überlieferte Behandlungsgewohnheiten oder Experten-Meinungen zu einem unkritischen Umgang mit Medikamenten geführt, ohne dass ein Wirksamkeitsnachweis vorlag. Auch der Kostendruck im Gesundheitswesen hat inzwischen aber dazu geführt, dass viele Behandlungsmaßnahmen nach strengen Gesichtspunkten auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden.
Bei einigen Erkrankungen können solche Beweise leicht geführt werden, bei anderen ist dies deutlich schwieriger.
In solchen Fällen werden von Fachleuten die vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse zu einer Behandlung sorgfältig analysiert und im Hinblick auf einen behaupteten Therapieeffekt ausgewertet.
Dabei zeigt sich dann, dass verschiedene Behandlungsmethoden unterschiedlich stark abgesichert sind, weshalb von so genannten Evidenzklassen gesprochen wird, die eine Aussage darüber erlauben, wie sicher ihr Wirksamkeitsnachweis ist.
Gerade bei der MS, wo Außenseitermethoden und solche mit vermeintlich sensationellem Erfolg durchaus geläufig sind und von manchen Betroffenen allzu gern aufgenommen werden, muss die Wirksamkeit von Behandlungsmethoden erwiesen sein. Die eingesetzten Medikamente können erhebliche unerwünschte Wirkungen haben, sodass ihre Wirksamkeit auch nachgewiesen sein muss. Dies sollte man immer mit seinem Arzt besprechen. Umgekehrt kann ein Patient dann auch besser verstehen, wenn ein Arzt keine »TherapieWünsche« erfüllt, deren
Wirksamkeit nicht ausreichend belegt ist.
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