Die wichtigsten durch spezielle Medikamente beeinflussbaren Störungen bei einer MS bestehen neben der Spastik in anfallsweise auftretenden Störungen, Schmerzen, Blasenentleerungsstörungen, Müdigkeit und Schwäche beziehungsweise gestörter Bewegungsabstimmung (Ataxie).
Spastik: Zur medikamentösen Behandlung der Spastik stehen im Wesentlichen die folgenden sechs Wirkstoffe zur Verfügung:
1. Baclofen (Handelsname z. B. Lioresal) ist am weitesten verbreitet und in der Regel auch am wirkungsvollsten. Die Dosis liegt zwischen 15 und 75 mg am Tag. Bei extrem stark ausgeprägter Spastik ist auch eine direkte Gabe in den Rückenmarkkanal über eine spezielle Pumpe möglich (Handels name Lioresal intrathecal).
2. Memantin (Handelsname: Akatinol Memantine) kann alleine oder in Kombination mit anderen Mitteln gegeben werden. Die übliche Dosis beträgt 10 bis 20 mg am Tag.
3. Tizanidin (Handelsname: Sirdalud) ist ein weiteres Mittel zur Behandlung der Spastik mit einer Tagesdosis von 12 bis 24 mg.
4. Benzodiazepine (Handelsnamen z. B. Valium, Musaril) können allein oder – dann in kleinen Dosen – in Kombination mit Baclofen nützlich sein. Die tägliche Dosis schwankt meist zwischen 5 bis 30 mg (Valium) und 50 bis 200 mg (Musaril).
5. DantroIen (Handelsname: Dantamacrin) kann ein Schwächegefühl in den Beinen bewirken, weshalb es hauptsächlich bei stark behinderten Patienten oder solchen, die nicht auf Baclofen und Benzodiazepine ansprechen, in Betracht kommt. Die Dosis liegt zwischen 50 und 200 mg am Tag.
6. Tolperison (Handelsname: Mydocalm) ist ein Medikament, dem sowohl eine Wirkung auf das zentrale als auch periphere Nervensystem zugesprochen wird. Die Tagesdosen liegen zwischen 150 und 450 mg.
Außer diesen Medikamenten kann bei extrem schwerer Spastik auch ein Behandlungsversuch mit BotuIinumtoxin (Handels namen: Botox, Dysport, NeuroBloc) gerechtfertigt sein. Dabei werden niedrige Dosen dieses Medikaments in die betroffenen Muskeln gespritzt und damit eine künstliche teilweise Lähmung erzeugt.
Anfallsweise auftretende Störungen: Eine Trigeminusneuralgie spricht meist sehr gut auf eine Behandlung mit Medikamenten an, die sonst zur Therapie epileptischer Anfalle eingesetzt werden. Besonders wirksam sind dabei Carbamazepin (Handels name in Deutschland z. B. Tegretal) und Gabapentin (Handelsname: Neurontin). Bei nicht ausreichendem Effekt können andere Antiepileptika oder eine Kombination mit dem bei der Spastik-Therapie bereits erwähntenBaclofen (Handelsname z. B. Lioresal) günstig sein.
Auch bei schmerzhaften und den Schlaf beeinträchtigenden nächtlichen unwillkürlichen Ruckbewegungen vor allem der Beine (spinale Automatismen) oder tonischen Hirnstammanfallen sind diese Medikamente wirksam. Dies gilt auch für andere anfallsweise auftretende Störungen wie epileptische Anfalle (bei zirka ein Prozent) und noch seltenere plötzlich auftretende, kurz dauernde Schwäche, Sprech- und Gefühlsstörungen.
Andere Schmerzen: Die Behandlung von Schmerzen richtet sich nach deren Ursache, Form und Stärke. Muskelschmerzen auf grund von Verspannungen sind beispielsweise anders zu behandeln als Schmerzen aufgrund einer Spastik. Sofern erforderlich, sollte medikamentös zunächst ein Versuch mit so genannten einfachen Schmerzmitteln wie Acetylsalizylsäure (Handelsname z. B. Aspirin) oder Paracetamol (Handelsname z. B. Benuron) erfolgen. Bei auf eine Spastik zurückzuführenden oder anderen dauerhaften Nervenschmerzen zeigt sich häufiger eine Besserung unterGabapentin (Handelsname Neurontin). Zusätzlich können auch hier physikalische Behandlungsmethoden sinnvoll sein.
Darmentleerungsstörungen: Bislang liegen keine aussagelkräftigen Studien zur medikamentösen Behandlung vor. Die meisten PatIenten haben, schon verschiedene Abführmittel bis hin zu Einläufen ausprobiert, bevor sie ihrem Neurologen von diesen Beschwerden berichten. Bei leichter Verstopfung können eine ballastreiche Nahrung oder pflanzliche Präparate ausreichend wirksam sein, bei schwerer Verstopfung sind Wirkstoffe wie Bisacodyl (Handelsname z. B. Dulcolax) oder Natriumpicosulfat (HandeIsname: Laxoberal) erforderlich. Bei leichter Stuhlinkontinenz können medizinische Kohle(Handelsname z. B. Kohle-Compretten) oder Loperamid(Handelsname z. B. Imodium) nützlich sein, manchmal reduziert auch ein morgendlicher Einlauf das Risiko einer Inkontinenz im Verlauf des Tages.
Blaseneentleerngsstörungen: Eine kleine, »spastische« Blase mit häufigem Harndrang und kleinen Restharnmengen spricht häufig günstig auf Anticholinergika (Handels namen z. B. Buscopan oder Spasmo-Cibalgin) an. Daneben können zur Herabsetzung der erhöhten Reizbarkeit der Blasenwand alpha-adrenerge Blocker wiePhenoxybenzamin (Handelsname: Dibenzyran) günstig sein, gegebenenfalls auch in Kombination mit Antispastika (Handels name z. B. Lioresal). Bei im Vordergrund stehendem störenden nächtlichen Harndrang können sowohl abendliche Einmalgaben von so genannten trizyklischen Antidepressiva wie z. B. Imipramin (Handelsname z. B. Tofranil) als auch das noch wirksamere Desmopressin (Handelsname z. B. Minirin) eingesetzt werden.
Eine Harnblase, die sich nicht richtig zusammenzieht (atone Blase) und mit großen Restharnmengen einhergeht, spricht meist günstig auf Cholinergika wie Carbachol (Handelsname: Doryl) oderDistigminbromid (Handelsname: Ubretid) an. Die beste Therapie besteht hier allerdings in mehrfach täglichem (intermittierenden) Katheterisieren, was die Betroffenen selbst erlernen und durchführen können.
Bei einer kombinierten Blasenentleermgsstörung mit gestörtem Zusammenspiel der für Blasenöffnung und -verschluss zuständigen Muskeln können die bei der »spastischen« Blase genannten Medikamente zusammen mit zeitweisem Katheterisieren eingesetzt werden.
Eine weitere, häufige Ursache als auch Komplikation von Blasenentleerungsstörungen bei MS kann in Blasenentzündungen bestehen. Diese müssen stets behandelt und möglichst verhütet werden. Bei häufig auftretenden Entzündungen hat sich zur Vorbeugung unter anderem eine Ansäuerung des Urins mitAscorbinsäure (Vitamin C) oder Methionin (Handelsname: Acimethin) als günstig erwiesen.
Müdigkeit, Erschöpfbarkeit: Neben einer Anpassung der körperlichen Belastung sind mit manchen Medikamenten günstige Wirkungen beobachtet worden. Dabei handelt es sich neben dem bei Viruserkrankungen und der Parkinsonkrankheit eingesetztenAmantadin (Handelsnamen z. B. Adekin oder PK-Merz) auch um das allgemein anregend wirkende Pemolin (Handelsnamen: Senior 20, Tradon; wegen des Risikos von Leberstörungen sind allerdings entsprechende Kontrollen der Leberfunktion ratsam) sowie Antidepressiva wie so genannte Serotoninwiederautnahmehemmer(Handelsnamen z. B. Fluctin oder Zoloft). In den letzten Jahren konnten kontrollierte Studien einen guten Effekt des WirkstoffsModafinil (Handelsname: Vigil; 200 mg einmal täglich) nachweisen. Dieses Medikament wurde eigentlich zur Behandlung der Narkolepsie entwickelt, einer Krankheit, bei der die Betroffenen tagsüber unkontrollierte Müdigkeits- und Schlafattacken erleiden.
Sexuelle Störungen: Seit Einführung von Medikamenten wieSildenafil (Handelsname: Viagra) steht insbesondere für männliche MS-Betroffene mit Erektionsstörungen ein wirksames Mittel zur Verfügung, das gegenüber anderen Erektionshilfen (wie z. B. Pumpen oder Spritzen in den Penis) insbesondere auch den Vorteil einer angenehmeren Anwendungsform hat.
Größere Anwendungsbeobachtungen beziehungsweise Erfahrungsberichte bei MS gibt es allerdings bislang nicht und es erfolgt keine regelhafte Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenkassen.
Ataxie (gestörte Bewegungsabstimmung) und Tremor: Für diese Beschwerden gibt es bislang keine gut wirksame medikamentöse Behandlung. Oft hilft Krankengymnastik und vereinzelt wurde über günstige Auswirkungen durch technische Hilfsmittel wie das Anbringen von Gewichten im Bereich von Ellenbogen- oder Kniegelenken berichtet. Bei starkem Tremor zum Beispiel in einem Arm soll es sich wie bei ausgeprägten ataktischen Störungen gelegentlich bewährt haben, ein Gewicht von etwa zwei Kilogramm an den betreffenden Unterarm zu binden.
Ansonsten wurden bei Tremor zwar verschiedene Medikamente wiePropranolol (Handelsname z. B. Dociton) oder niedrige Dosen des Antiepileptikums Primidon (HandeIsname z. B. Mylepsinum) eingesetzt, ohne dass über wirklich überzeugende Erfolge berichtet wurde. Ob sich erste günstige Berichte mit dem sonst zur Verminderung von Angst eingesetzten Medikament Buspiron(Handelsname: Bespar,) bewahrheiten, muss noch abgewartet werden.